Donnerstag, 16. Februar 2006

Ankunft in Auschwitz

Gedanken und Impressionen während einer Exkursion in das Konzentrationslager Auschwitz im Januar 2006


Gang



"Wer die Geschichte vergisst, ist dazu verdammt sie immer wieder zu durchleben."

Vorwort

Meine Reise nach Auschwitz begann eigentlich mit dem Ausfüllen des Anmeldeformu-lars zur Spurensuche in Auschwitz – Fachexkursion Geschichte Jahrgang 11-13. Am 3. Reich und den damals verübten Verbrechen war ich schon seit langer Zeit interessiert gewesen, hatte im Jahr 2003 eine Hitlerbiographie und Analyse der historischen Situation gelesen und wurde auch irgendwie in das Thema hineingeboren. Durch meine Mutter und meine aus Westpreußen stammenden vertriebenen Großmutter erfuhr ich schon früh Geschichten aus den Zeiten des Krieges. Über Konzentrationslager hatten wir jedoch nicht sehr oft gesprochen, denn niemand aus unserer Familie war jemals in solch einem Lager gewesen. Auch sonst hatte ich mich kaum mit diesem dunklen Kapitel der faschistischen Herrschaft be-fasst. Es bot sich kein Anlass.
Als ich mich zur Teilnahme entschied, konnte ich also nicht wirklich einschätzen, was mich dort erwarten würde. Auschwitz war für mich ein unbekannter Ort im östlichen Polen, an dem die Nationalsozialisten millionenfachen Mord verübten. Natürlich hatte ich schon einiges über diesen Ort, ein Synonym für die schrecklichen Verbrechen der Nazis, gehört, doch irgendwie erschienen mir diese Informationen zu sachlich, die Erfahrungen waren sehr mittelbarer Natur. Mein Blick auf die Thematik Auschwitz war wohl mehr wie ein Blick durch ein beschlagenes Fenster. In Schemen ließen sich die im Konzentrationslager vorgefallenen Dinge erkennen, die in mir in gewisser Weise auch Betroffenheit hervorriefen, doch ein unmittelbarer, mehr oder weniger klarer Blick auf den Völkermord war mir verwehrt. Das Leid und der Schrecken waren nicht wirklich greifbar.

Die Reise


Kilometerweit führen die Schienestränge geradeaus. Ein Strich durch die leere, verschneite Landschaft, auf dem sich der ratternde Zug unablässig seinem Bestimmungsort nähert. Zielstrebig. Nichts kann ihn aufhalten. Es ist unmöglich seinen Weg zu beeinflussen. Die Stahlräder sind dazu verdammt der vorgegebenen Richtung zu fol-gen, sie fügen sich ohne Widerstand ihrer Führung. Ein Abweichen vom Weg ist unmöglich, alles folgt den Gesetzen der Physik. Geradeaus, geradeaus – stets dem vor-gegebenen Ziel entgegen.
Ich stehe an der verriegelten Verbindungstür im letzten Waggon des Zuges, der meine Gruppe und mich nach Kattowitz bringen soll und betrachte den Schienenstrang.
Sind auf diesem Weg auch Häftlinge deportiert worden? Ich weiß es nicht und doch kann ich mir, wenn auch nur in sehr beschränktem Maße, vorstellen, wie sich die Verschleppten während den oft tagelangen Zugfahrten gefühlt haben. Ihre wie auch meine Reise war eine Reise ins Unbekannte. Die Deportierten kannten ihren Bestimmungsort oft nicht, auch was sie dort erwarten würde, lag für sie häufig im Dunk-len. Natürlich weiß ich, wo ich hinfahre, doch die Dinge, die mich dort in Auschwitz erwarten, lassen sich nur schwer erkennen. Doch zielstrebig und unaufhaltsam nähert sich der Transport dem Bestimmungsort. Die Richtung ist vorgegeben, so wie auch der Weg der meisten Deportierten, der Häftlingen in Auschwitz vorausbestimmt war. Das schreckliche Ziel rückte für die Häftlinge stetig näher - der Tod, die Vernichtung dieser Menschen wurde über unterschiedlich lange Leidensstrecken erreicht. Einige starben bald nach der Ankunft im Lager in den Gaskammern, andere wurden zunächst durch Arbeit zugrunde gerichtet.
Der Schienenbus, der uns von Kattowitz nach Oświęcim (Auschwitz) bringen soll, nähert sich dem Zielbahnhof. Die Tür öffnet sich und sofort strömt mir die eisige Kälte entgegen. Wuchtig und unpersönlich ragen die Bauten der sozialistischen Vergangenheit in den Himmel. Es riecht nach Braunkohle und Abgasen.

Oświęcim habe ich erreicht, doch in Auschwitz, Symbol des größten und mil-lionenfachen Mordes, bin ich noch nicht angekommen.


Die Ankunft

Gesichter, überall Gesichter. Augen voller Angst. Augen voller Entsetzen. In dem Sekundenbruchteil der Belichtung wurden diese Gefühle konserviert. Die Verzweiflung der Seele wurde auf Fotopapier übertragen.
Langsam schreite ich an den Aufnahmen vorbei, die links und rechts von mir hängen. Langsam schreite ich durch einen Gang eines Ziegelsteinblocks, in dem vor mehr als 60 Jahren auch Personen gingen, die Opfer eines verbrecherischen Regimes, einer verblendeten Rassenideologie waren. Viele dieser Menschen haben das Ende der Schreckensherrschaft nicht mehr erlebt, sie wurden vorher von den Nazis ermordet. Von den Wänden blicken sie mich unablässig an, diese Menschen. Eine Stoffblume über dem Bild eines jungen Mannes, ein Zeichen des stillen Gedenkens. Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert: Die Trauer hält an. Beklemmung ergreift mich.
Die Häftlinge schienen zu ahnen, dass ihnen Schlimmes bevorsteht. Einer jun-gen Frau stehen Tränen in den Augen. Häftling 6899 - Tekla Tomaszewska lese ich unter dem Foto. Wer war diese Frau? Warum kam sie ins Lager? Was hat dort alles erlebt? Diese Fragen lassen sich nicht beantworten. Ihr Mund bleibt stumm. Und doch steht dieser Unbekannten der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Sie musste wohl wie alle Lagerinsassen die Demütigungen und den Terror über sich ergehen lassen. Über ihren genauen Leidensweg erfahre ich nichts. Nüchtern steht in schwarzen Lettern „eingeliefert am 27. April 1942; gestorben am 2. November 1942“.
Hunderte dieser Fotos hängen in einigen Blocks des Stammlagers, die aus dem Häftlingsregister der SS stammen, die nachträglich mit den kurzen Angaben zur Person versehen wurden. Alle diese Menschen wurden ermordet. Alle diese Menschen durchlebten im Lager die schrecklichste Zeit ihres Lebens. „Erlöst“ von ihrem Leid und ihrem qualvollen Dasein im Lager wurden sie erst durch den Tod. Zuvor wurden Häftling wie Tekla Tomaszewska psychisch und physisch systematisch zu Grunde gerichtet.
Unsere Führerin nennt uns die Zahl der Opfer, die im gesamten Lager Ausch-witz ermordet wurden – 1,1 bis 1,5 Millionen. Doch diese Zahl ist ein Abstraktum, denn unvorstellbar ist eine solche Zahl von Morden und das damit verbundene Leid der Opfer und der Zurückgebliebenen bzw. Überlebenden. Stirbt ein uns nahe stehen-der Mensch, so ist die Trauer, der Schmerz schon kaum greifbar. Wie groß ist also das Millionenfache dieses Schmerzes? Es kann nichts geben, was ihn beschreiben kann. Die Zahl als solche ist also nicht das Entscheidende, denn hinter ihr verschwindet nicht nur das Leid der Häftlinge, sondern auch deren Identität und Einzelschicksal. Die Einzigartigkeiten dieser Menschen, ihrer Persönlichkeit transportiert die Zahl der Opfer nicht mit. Die Fotos dagegen geben einem winzigen Anteil der Opfer ein Ge-sicht. Durch die Photographien wird mir auf eindrucksvolle Weise klar, dass hinter mehr als einer Million Tote auch ebenso viele einzigartige Personen stehen. Obwohl ich keinen einzigen Häftling kenne, fühle ich eine tiefe Niedergeschlagenheit in meinem Inneren.
Nun bin ich angekommen in Auschwitz. Die Bilder sind für mich sozusagen der Eingang in diese Thematik. Nun beginne ich wirklich zu realisieren, was hier vor-gefallen ist und welche schrecklichen Ausmaße der Massenmord hatte, der mir immer noch unbegreiflich scheint.
Als ich die Berge von menschlichen Haaren sehe, verstärkt sich dieser „Erkenntniseffekt“ noch weiter. Massenhaft Stiefel, Halbschuhe, Sandalen - mal aus Leder, mal aus Stoff - mal farbig, mal bestickt - mal unscheinbar, mal ausgefallen. Wem gehörten diese Schuhe? Jedes Paar ist so individuell wie die Trägerin oder der Träger, denen sie gehörten.
So anonym wie das Schuhwerk sind die aus den Magazinen des Lagers Birkenau stammenden Koffer nicht. Mit klaren Buchstaben sind sie säuberlich mit Namen und Herkunft beschriftet – „Dr. Bernhard Israel Aronsohn, Hamburg, Kielertallee 22; Waisenkind Nr. 615, Neubauer Gertrude, geb. 22.XI.1935“.

ARBEIT MACHT FREI – In Großbuchstaben prangt diese Nazi-Lüge über dem Eingang zum Stammlager Auschwitz (Auschwitz I). Frei ist durch die menschenverachtende Arbeit kein einziger Häftling geworden. Befreit und erlöst wurden viele Lagerinsassen erst durch den Tod, mit dem die Qualen ein Ende hatten.

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